Digitale Evolution


Zugegeben: Ich habe mir viel Zeit gelassen für die kommenden Worte. Es baucht einfach seine Zeit. Lernen. Verstehen. Begreifen. Wenn ich nur an meine Versuche denke, spanische Vokabeln in meinem Kopf zu verankern, wird es sehr deutlich: Lernen benötigt Zeit. Viel Zeit. Und das sind nur Vokabeln. Wenn ich dann bedenke, wie viel der Mensch in seinem Leben lernen muss, um zum Beispiel nur in der Lage zu sein, sagen wir, einen Schritt vor den anderen zu setzen, mannomann. Und wenn ich dann das Bild groß ziehe, kommt mir sofort in den Sinn, dass wahrscheinlich ein irrwitziger Prozentsatz dessen, was eine Generation an Wissen angehäuft hat, in der nächsten schon wieder verloren und für Historiker, Entdecker, Archäologen zur Wiederfindung freigegeben ist. Ich schätze mal: 98 Prozent. Wenn ich wohlwollend bin.

Der Mensch ist einfach sehr, sehr langsam in seiner Evolution. Und scheinbar noch langsamer im Verstehen, wo er in Sackgassen geraten ist, ungünstige Richtungen gewählt hat, wo Wege aus dem Desaster herausführen. Perfektioniert hat er vor allem seine Selbstzerstörung. Das Sägen an dem Ast, auf dem er sitzt. Und zwar mit mehreren Sägen gleichzeitig. Und dabei auch noch den Stamm angewinkelt mit wurzelschädigendem Urin. Und dabei noch voller Freude rumgewickelt und -gehüpft auf dem immer prekärer werdenden Sitzplatz.

Dass man, oder eher nicht man, auch schneller lernen kann, zeigen uns unsere „Kinder“. Also, jetzt nicht die Kinder, die neun Monate im Bauch ihrer Mütter herangewachsen sind, und dann langsam gehen lernen, bis man sie dazu bringt, nur noch hinter Schreibtischen zu sitze, sondern die Erfindungen der Menschheit, die Kinder des Geistes. Und hier vor allem die im Allgemeinen als bedrohlich angesehenen binären Geschöpfe. Alles, was digital ist, macht gefühlt alle 12 Monate einen Entwicklungssprung, von dem Volkswagen und Konsorten nur träumen können. Will sagen der digitale Fortschritt überholt uns täglich von rechts und links und wenn wir glauben, irgendetwas davon kapiert zu haben, ist das schon lange wieder veraltet. Das ist schon gruselig. Und bis vor ganz kurzem habe ich auch mit allen Mitteln versucht, mich dagegen zu wehren, weil ich nicht in einer Welt leben möchte, die mich manipuliert, mir in jede Tasche gucken kann, Entscheidungen über meinen Kopf hinweg trifft, und alles gelenkt von ein paar weltfremden Nerds, die nur ihre Prozessoren lieben und die befremdliche Poesie ihrer Progammzeilen. Der Geist von BigData ist zwar längst aus der Flasche, aber trotzdem habe ich versucht, mich in einem Parallelwelt zu flüchten. Und wieso? Wahrscheinlich aus Angst, vor Kontrollverlust. Lieber lasse ich mich scheinbar von Menschen leiten und regieren, die zwar immer wieder beweisen, dass sie keinesfalls tun, was ich für richtig halte, aber immerhin sind sie meine Spezies. Und denen vertraue ich doch mehr als irgendwelchen Ansammlungen von Einsen und Nullen, oder?

Und dann, vor ein paar Tagen, drehte sich in meinem Kopf und Bauch alles in die andere Richtung. Ich hatte einen Bericht gehört über ein lettisches Unternehmen, das eine App auch in Deutschland nutzbar machen will, mit der man alle möglichen Verkehrsmittel live verfolgen und buchen kann, um ohne ein eigenes Fahrzeug komfortabel und schnell ans Ziel zu kommen. Und da klappe irgendetwas in meinem Inneren um.

Was auch immer Künstliche Intelligenz sein soll. Ob sie jemals mit Intelligenz, wie wir sie beim Wesen aus Fleisch und Blut (zu) kennen (glauben), vergleichbar sein wird, eines steht fest: Rationale Entscheidungen fällen ist sicher nicht die Stärke des Homo Sapiens. Da kann er sich noch so sehr bemühen, er bleibt immer korrumpiert. Er ist und bleibt getrieben von Gier, egoistischen Motiven, Machtwillen. Gelenkt von für rationale Entscheidungen so ungünstigen Gefühlen wie Liebe, Eifersucht, Neid und Hunger. Das passiert einem Computer wohl nicht. Und so wuchs bei mir in rasanter Schnelle die Überzeugung, dass CloudComputing die bessere Wahl wäre. Schon bei der nächsten Bundestagswahl, vielleicht. Da wähle ich dann keine Abgeordnete aus Fleisch und Blut, sondern einen mir nahestehenden Algorithmus, der im Bundestag einen Sitz einnimmt, ohne einen Platz zu beanspruchen. Und eines Tages dann werden nur noch Algorithmen dort sitzen, die sich austauschen und gemeinsam nach der besten Entscheidung suchen. In blitzartiger Geschwindigkeit. Das würde die Ausländermaut genauso verhindern, wie ein BER-Desaster oder Stuttgart 123. Um mal ganz platt zu sprechen. Und sowas wie TrumpErdoganPutin gäbe es wohl auch nicht mehr. Jedenfalls nicht in ihren Positionen.

Wenn also wirklich eine Computerwolke weltweit Daten aller Art sammeln und auswerten würde um verschiedene Aufgaben zu übernehmen, klingt das doch sehr reizvoll. Sie wäre nicht darauf aus, höchstmöglichen Profit zu erwirtschaften, sondern eine Lösung für Probleme zu finden, die für alle am wenigsten schädlich ist. Sie wäre daher auch nicht darauf aus, unsere persönlichen Daten zu nutzen, um uns in irgendeine Falle zu locken, damit irgendwer sich die Taschen mit Dollars oder Bitcoins vollstopfen könnte. Geld oder so etwas gäbe es ja gar nicht mehr. Stattdessen eine perfekte Koordination von Bedürfnissen und deren Erfüllung: Patienten erhielten die bestmögliche Behandlung, Untätige die befriedigendsten Tätigkeitsfelder, Milchkühe den besten Absatzmarkt, Einsame die erfolgsversprechendsten Partnervorschläge. Es würde ausreichend Wohnraum geschaffen an Orten, die für die Natur am wenigsten belastend wären, die den Bedarf der Bewohner an Mobilität gut bedienen würden, die in allen Belangen optimal wären. Anders als jetzt, wo eine Gemeinde auf Biegen und Brechen auf wertvollen Flächen Baugrund ausschreibt, um irgendwie ihre Gewerbesteuereinnahmen zu erhöhen, während zehn Kilometer weiter deutlich weniger belastende Möglichkeiten bestanden hätten, die aber zum Vorteil einer anderen Gemeinde gereicht hätten.

Wenn durch digitale Informationen das Schöpfen von Ressourcen schonend koordiniert, die Herstellung, der Transport und die Verteilung von Waren optimiert würde, dann könnten damit viele der Sägen, die an unserem Ast nagen, beiseite gelegt werden. Viele Tätigkeiten werden in den kommenden Jahren ohnehin von Computern übernommen. Fahrzeuge werden von Geisterhand gelenkt, Siris auf zwei Beinen werden Alte betreuen und mit Kindern lernen, Knie und Herzen werden von softwaregesteuerten Geräten operiert. Die Tätigkeiten, die von Menschen getan werden müssen oder sollten, werden jenen angeboten, die sie gerne übernehmen wollen. Das alles wird den Faktor menschliches Versagen deutlich verringern. Es wird wohl auch für Delinquenten schwieriger, unerkannt zu bleiben, wenn BigData wirklich Big wird. Und wo wir bei Verbrechern sind: Wenn lernfähige Algorithmen Regierungen ersetzen sowie deren meist höchstgradig irrationalen und dem Gemeinwohl entgegengesetzten Entscheidungen und auch profitorientierte Konzerne einfach nicht mehr existieren weil irgendwann alles von Computern gelenkt wird, die weder reich werden wollen noch auf irgendeine andere (materielle) Weise ihr Ansehen steigern, und generell jeder Machtmissbrauch schon im Ansatz erstickt wird, dann ist das ja vielleicht fast wie im Himmel – außer … Ja, was wäre denn der Nachteil? Dass der Mensch keinen Raum mehr hätte, in den er sich zurück ziehen könnte, mal etwas Illegales tun, ohne gleich ertappt zu werden? Das Gefühl einer gewissen (notwendigen) Freiheit zu erleben?

Aber vielleicht wäre die Cloud ja so schlau, ihm den Eindruck ab und an mal zu lassen.

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