Es gibt trotz offiziell vermehrter Gegenanstrengungen weltweit eine knappe Milliarde Analphabeten, viele davon hatten nie eine Chance, eine Schule zu besuchen. Die Auswirkungen sind enorm. Das Bildungsniveau bleibt gering, weil in fast allen Kulturen die Aufnahme von Wissen in der Regel auch über Lektüre geschieht. Jede Ausbildung, jeder Kurs, und fast jedes berufliche Tätigkeitsfeld hat mit mehr oder weniger Textarbeit zu tun. Schon allein das Auffinden einer Ausbildungsstätte bedarf oft genug der Fähigkeit, zumindest einen Busplan lesen zu können. Geld verdienen, ohne die Kompetenz Leseverstehen ist sehr schwierig. Es gibt kaum Tätigkeiten, bei denen Lesen und oft auch Schreiben nicht elementare Bestandteile sind. Analphabeten haben also ein deutlich höheres Risiko entweder arbeitslos zu sein, prekär beschäftigt zu werden und/oder minderwertige, will sagen, schlecht bezahlte Jobs zu erhalten. Zudem bleibt in den Fällen, in denen man dennoch einem Beruf nachgehen kann, die Abhängigkeit von Dritten, die notwendige Texte erläutern – und sei es der Arbeitsvertrag. Diese Abhängigkeit bezieht sich auf alle Gebiete des täglichen Lebens. Wer einmal durch ein Land gereist ist, das wohlmöglich eine andere Schriftart benutzt, als die vertraute, bekommt schnell einen Einblick, wie abhängig der moderne Mensch von schriftlichen Informationen ist. Ohne lesbaren Reiseführer kann man nicht einmal erkennen, an welcher chinesischen U-Bahnstation dern Zug da gerade angehalten hat. Und genauso muss es auch Menschen gehen, die in den uns vertrauten Buchstaben nur wilde Muster erkennen, weil sie einfach nicht richtig lesen können. Wenn man nicht oder nur sehr rudimentär lesen kann, führt das zu weitreichenden sozialen Schwierigkeiten. Sehr, sehr viele Informationen, die der lesende Mensch täglich ‚so im Vorbeigehen’ erhält, bleiben dem Nichtlesenden veschlossen. Zum Glück gibt es heutzutage technische Mittel, die weiterhelfen. Das Smartphone liest Zeitungsartikel oder SMSe vor, das Radio oder TV vermittelt sehr viele Informationen in auditiver Form. Aber dennoch: gezielt etwas suchen, sich über etwas unabhängig informieren, neue, fremde Ideen in Form von Büchern entdecken, oder auch nur den eigenen Kontoauszug zu verstehen, ist praktisch unmöglich. Und wenn man es genau nimmt, stecken gerade in Büchern und anderen längeren Texten Strukturen und Universen, die man ohne die Lektüre kaum erobern kann, von dene man keine Vorstellung erhlt. Wie ein Blinder keine Vorstellung von Farben hat. Lesen öffnet Türen in andere Welten, bereichert persönlich, schafft das eigene Weltbild, ist so wie ein Fenster aus dem engen Zimmer, in dem man sonst das Leben wahrscheinlich verbringen würde. Und selbst wenn man ausreichend alternative Quellen von Wissen für sich aufgetan hat, bleibt in unserer textlastigen Gesellschaft die Abhängigkeit von Dritten, die einem die Welt erklären, die selektiv Information weitergeben. Und wenn dann die Aufmerksamkeitsspanne beim Zuhören auch noch eingeschränkt ist, wird der eigene geistige Raum immer kleiner.
Wenn ein Mensch, der kaum lesen kann, eine gesellschaftlich verantwortliche Position bekleidet, ist dies eine große Herausforderung. Bei jeder Entscheidung ist er ausschließlich auf entscheidungsrelevante Informationen Dritter angewiesen. Sich unabhängig eine eigene Meinung zu bilden, ist sehr eingeschränkt möglich. Das Gefühl, diesen ‚Makel‘ vor der Öffentlichkeit verstecken zu müssen, ist enorm belastend und führt aufgrund der Anspannung zu stressgeleitetem Verhalten. Es gibt vermehrte Anzeichen, dass die USA von einem Präsidenten geführt werden, der als funktionaler Analphabet bezeichnet werden kann.