Der Mensch glaubt ja gerne mal, auf der Höhe der Zeit zu sein. Also weiter als die Alten, weiter als diejenigen, die vor ihm gehandelt haben, die vor ihm schlau waren. Schön haben die das gemacht, aber wir können das heute ja so viel besser und schneller. EIgene Erkenntnisse lassen ihn lächeln über das, was früher war, was vor ihm war. Und nur ganz wenigen Personen kommt manchmal die Einsicht, dass der Fortschritt oft gar nicht stattgefunden hat – vielmehr ein Rückschritt, höchstens ein Aufholen, nachdem wertvolles Wissen zwischenzeitlich verloren gegangen war. Das Neue ist nicht unbedingt besser und vieles, was wir als Errungenschaft loben, gab es schon zuvor – oft genug in besserer Qualität und mit höherem Nutzen. Vinylplatten haben mehr Charakter, die Zwiebelmethode mit Baumwolle, Wachs und Leder hat ihre Vorteile gegenüber Hightech-Kleidung, die eMail ist auch nicht immer schneller als die Post vor hundert Jahren, die oft hunderte Kilometer entfernt noch am gleichen Tag ausgeliefert wurde und scheinbar neu entdeckte exotische Früchte hatten unsere Großmütter schon zu Kaisers Zeiten auf dem Tisch.
Nun bin ich gestern an ein Beispiel von Geschichtsvergessenheit geraten, das mich deutlich mehr frustriert hat als die obigen. Es ging um Architektur. Und es ging um schon fast barbarisch anmutenden Umgang mit Kostbarkeit. Ein Architekt hat sich viele wertvolle Gedanken gemacht um einen öffentlichen Raum zeitgemäß mit unzähligen Details zu gestalten, eine Armee an Handwerkern hat mit außergewöhnlicher Expertise Materialien verarbeitet und verbaut, jahrelang wurde geplant und geschuftet und alles zu einer beeindruckenden Perfektion gebracht. Erschaffen wurde die dritte Bonner Beethovenhalle. Gelegen in einem kleinen Park, der der Bürgerin aus der Stadt kommend erlaubte, in eine andere Atmosphäre zu treten, sich barrierefrei dem Haupteingang zu nähern über individuell angefertigte Steinplatten ohne rechte Winkel, das durch eine Glasfront zum Park offene Foyer anzusteuern und vorbei an immer wertvoller werdenden Materialien zum Zentrum des Musentempels zu gelangen, dem Konzertsaal mit einer der besten Akustikleistungen in Europa. Und dann hat eine dumpfe oder blinde Verwaltung über mehrere Jahrzehnte Stück für Stück zerstört, weil sie weder den Wert erkannte noch das Zusammenspiel aller Einzelteile dieses einzigartigen Baus begriff. Es ist verständlich, das Bauten mit einer Funktion sich im Laufe der Zeit mit den Bedürfnissen entwickeln müssen, wenn sie eine Zukunft haben sollen. Was gewinnt man aber, wenn man dabei dessen Wert zerstört? Die schwarzen Deckenlampen werden durch hellere chinesische Billigware ersetzt, um mehr Licht in den Raum zu bringen, die Springbrunnen vor dem Haus zugeschüttet, um Geld zu sparen, spielerisch in unterschiedlichen Höhen von den Decken hängende Lampen nach der Erneuerung der Lüftung neu aufgehängt, alle Kabel auf gleiche Länge geschnitten, die Betonfassadenteile statt lasierend und durchschimmernd mit fettem Blau zugeschmiert, die Holzverkleidung im Konzertsaal nach einem Brand erneuert, ohne auch die dahinter versteckten Akustikelemente wieder einzubauen und just vor wenigen Wochen für eine Karnevalsveranstaltung das etwas wackelige Geländer durch ein weiteres ergänzt, wofür man den noch erhaltenen Parkettboden auf der Empore an einigen Stellen zerstören musste und stilistisch völlig unpassende – aber sicher sehr kostspielige Edelstahlrohre anbrachte. Das sind nur einige der teilweise wirklich abstrusen Beispiele. Wenn man mit offenen Augen durch die Gebäudeteile wandelt, fallen an allen Ecken und Enden Verstörungen und Zerstörungen auf. Wahrscheinlich muss man es selbst sehen, um das Ausmaß und die Befremdung zu spüren, die die Verwaltungsgeschichte dieses Gebäudes hinterlässt. Immerhin hat man sie dann doch nicht abgerissen. Auch Dank des Einsatzes der Werkstatt Baukultur, die ich hier hervorheben möchte! Und wer kann, möge sich einsetzen für die Wiederinstandsetzung, und sei es nur durch gesteigertes Interesse.
Und dann noch diese Frage in meinem Kopf: Ist es eigentlich ein Bonner Phänomen oder finden sich Beispiele für achtlose Zerstörungswut überall? Hier in der Bundesstadt finden sich zahlreiche verwahrloste Schätze, zahllose weitere Beispiele für Nachlässigkeit und Fahrlässigkeit. Und sicher auch für gewollten Verfall. Um Platz zu schaffen für Egomanen. Was ist Bonn sich selbst wert?